Disclaimer
Geydebruk, den 8.6.44 
Meine liebe kleine Inge! 
Nun sitze ich hier in G. auf dem Bahnhof und da ich etliche Stunden Aufenthalt habe, will ich gleich ein paar Zeilen an Dich schreiben. 
Kleine Frau, es ist alles ganz leer ohne Dich. Ich habe versucht mich mit dem Buch zu trösten, das Du mir für Tröstung für diese Trennungsstunden geschenkt hast. Es gelingt mir aber nicht, darin Trost zu finden. Es kann überhaupt nichts geben, was mir Deine Anwesenheit ersetzen kann. Ich danke Dir dafür, daß Du mir den Abschied nicht so schwer gemacht hast. Es ist mir wirklich schwer gefallen, mich von Dir zu trennen, wenn ich es auch nicht gezeigt habe! Es war schrecklich, als Du so in der Ferne verschwandest! Der Zug fuhr aber nicht wieder zurück - leider. Damit mußte ich mich nun abfinden. 
Während der Zug nun unaufhaltsam weiterrollte, konnte ich viel über Dich nachdenken. Du, kleine Inge, hast mir die schönste Zeit meines bisherigen Lebens gebracht. Zu schön war es in meinem Elternhause noch nie! Was war das doch für eine herrliche Zeit, die ich dort mit Dir verlebt habe! Sie wird mir unvergeßliche sein, mag da kommen, was will! Du bist das Wesen, nach welchen ich mich viele Jahren hindurch gesehnt habe und das ich nie gefunden habe. Ich bin dem Schicksal sehr dankbar, welches Dich meinen Weg kreuzen ließ. Es hat wohl vieles in meinem Leben so sein müssen, was sich früher nicht verstanden habe. Alles war wahrscheinlich auf ein Ziel gerichtet  - auf Dich. Du bedeute ist mir auch so viel, Inge, daß ich Dir das gar nicht mit Worten sagen kann. Ich weiß aber, daß Du das aus meinen Zeilen herausliest. Noch deutlicher hast Du es ja gefühlt, als ich noch bei dir war. Ich konnte doch keine Stunde ohne dich sein, wenn Du deinen Dienst beendet hattest, und es sind wohl auch wenige Stunden gewesen, in denen wir nicht zusammen waren. Es war alles so schön, und wir haben uns doch auch so gut verstanden, wie sich wohl keiner besser verstehen kann. Du bist mir so ans Herz gewachsen, kleine Frau, Du bist ein Teil von mir selbst geworden. Ich komme mir heute unvollständig vor, wie ich es noch nie gewesen bin. Es ist wahrhaftig kein schöner Zustand. 
Heute früh bin ich durch eine schöne Gegend gefahren. Rechts hatte ich den Blick auf das Riesengebirge, das noch teilweise mit Schnee bedeckt war. Wie hätte mich der Anblick erfreut, wenn Du bei mir gewesen wärest! Gemeinsam hätten wir diese Schönheit genießen können, denn alles Schöne, an dem auch Du teilhaben kannst, kann mich erst so richtig erfreuen. Früher war das bei mir nicht so, aber nachdem Du ein Teil von mir selbst geworden bist, muß das wohl sein. 
Eigentlich ist in mein Brief etwas sentimental abgefaßt. Dafür bin ich sonst gar nicht so. Die Abschiedsstimmung bringt das so mit sich. Ich wollte Dir ja erst von meinem Bestimmungsort einen Brief schreiben, aber ich hielt es nicht so lange aus. Es mußte eben heraus aus mir. Beim Schreiben ist es mir so, als ob wir zwei uns unterhielten. In Gedanken bist Du da so dicht bei mir, daß ich da die Umwelt hier ganz vergesse. 
Wann wird wohl mal der Tag kommen, der uns von aller Ungewißheit freimacht? Ich kann mir das gar nicht vorstellen und kann auch gar nicht daran glauben. Mögest Du Dich nicht getäuscht haben in Deiner Hoffnung, daß alles Leid ein gutes Ende nimmt! 
Nun soll es erstmal genug sein. In den nächsten Tagen oder wahrscheinlich noch eher, schreibe ich hier wieder. Da werde ich dir dann berichten, was beim Ersatztruppenteil los ist. 
Grüß meine Eltern und Liselotte und sei selbst vielmals gegrüßt und noch viel öfter geküßt von 
Deinem Leo
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